Das menschenfarbene Herz
Ein etwas anderer Impuls
Am Freitag eine Woche nach dem Fronleichnamsfest feiert die Kirche das Hochfest des Heiligsten Herzen Jesu. In diesem Fest wird uns die Liebe Gottes vor Augen gestellt. Wer das Kirchenjahr aufmerksam mitverfolgt, kann in all den großen Festen des Jahres diese unser Verstehen übersteigende Liebe Gottes zu uns Menschen als roten Faden finden. Mit diesem Impuls zum Herz-Jesu-Fest möchten wir uns auf eine märchenhafte Weise diesem Geheimnis nähern:
Das menschenfarbene Herz
Es schneite. Und immer, wenn es schneite, konnte er nicht anders. Er musste hinaus. Wenigstens ein kleiner Spaziergang musste sich dann ausgehen. Er zog in Eile seine Jacke an und die warmen Stiefel. Und schon war er draußen. Der Spazierweg lag in unmittelbarer Nähe und führte einen kleinen, quicklebendigen Bach entlang. Es war kalt. Und doch blieb der Schnee nicht liegen. Das schien die Flocken nicht zu stören. Sie wirbelten ohnehin viel lieber in der Luft herum. Er spazierte also den Weg am Bach entlang. Die Nase mehr in den Himmel gestreckt, um das Wirbeln der Schneeflocken besser beobachten zu können. Und er verlor sich ganz darin, wie er es immer tat. Doch mit der Nase im Himmel kann man die Steine am Weg nicht sehen, und so rutschte er aus. Unsanft fiel er auf seinen Rücken. Das machte ihn mit dem Sturz wenigstens ein wenig versöhnlich, denn von dieser Position aus konnte man noch immer die Schneeflocken wirbeln sehen… Beim Aufstehen stützte er sich mit den Händen am Boden ab. Da berührte seine Rechte plötzlich etwas Weiches. Er zuckte sofort mit der Hand zurück. Beim näheren Hinsehen entdeckte er ein kleines Herz. Nicht einmal so groß wie seine Handfläche. Er stand auf. Das Herz lag da, am Rande des Spazierweges. Unter abgebrochenen Zweigen lugte es hervor. Neugierig beugte er sich hinab, um mehr zu sehen. Es war ein schönes Herz. Von ebenmäßiger Form. Es war keineswegs flach. Doch war es nicht wie prall gefüllt. Es war dort und da etwas abgekratzt. Und an einer Seite sogar ein wenig eingerissen. Aber es war ein schönes Herz. Nur eines war an diesem Herzen, das störte seine Schönheit. Er konnte es nicht gleich benennen, was es war. So blieb er eine Weile vor dem Herzen stehen und betrachtete es. Und während er es so betrachtete, merkte er, wie ihm ein wenig davor ekelte. Und da erkannte er, was die Schönheit dieses Herzens störte. Es war seine Farbe. Es war ein menschenfarbenes Herz! Neugierig und zugleich etwas angewidert stand er vor dem Herzen. Menschenfarben. Menschen gab es doch schon lange keine mehr auf dieser Erde. Da gab es Wirtschafter. Und Politiker. Da gab es Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Da gab es Macher und Alleskönner. Da waren die Besserwisser und Niezufriedenen. Da gab es die Versager und die Obdachlosen. Da waren die Patienten und die Ärzte. Da gab es Kluge und da gab es Dumme. Da gab es Mieter und Vermieter. Da gab es Industrielle und Geldsammler. Da gab es Erfinder und Innovative. Da gab es Ewiggestrige und Mumien längst vergangener Zeiten. Da gab es Diebe und Kriminelle. Da waren die Verrückten und die Anderen. Da gab es … ach es gab da wirklich eine große Vielfalt. Aber Menschen. Menschen gab es schon lange keine mehr auf dieser Erde. Er hatte in der Schule einmal von ihnen etwas gelernt. Aber er wusste schon gar nicht mehr, was das war.
Er stand noch immer vor dem Herzen, das da am Boden lag. Unter den dünnen Zweiglein. Einfach so dalag. Und die Neugierde ließ ihn nicht los. Also bückte er sich, überwand seinen Ekel und streckte die Hände aus nach dem kleinen Herzen. Ganz vorsichtig hob er es mit beiden Händen hoch. Es war weich. Und warm. Es war beinahe so, als kuschelte es sich in seine Handflächen hinein. Ganz sanft berührte er es nun mit seinem Finger, fuhr die Herzform nach bis hin an die Seite, die eingerissen war. Wem es wohl gehören mochte? Ein menschenfarbenes Herz? Es konnte nur Gott gehören. Denn hier auf dieser Erde gab es schon längst keine Menschen mehr… Er sinnierte lange nach. Er stand einfach da. Auf dem Weg am quicklebendigen Bach. Die Schneeflocken hatte er längst vergessen. Er sah nur noch dieses Herz, in seinen Händen. Wem mochte es wohl gehören? Und wenn es Gott gehört? Dann muss er es Ihm wohl wieder zurückgeben. Er wird es bestimmt vermissen. So machte er sich auf den Weg zu Gott.
In der Ferne konnte er das Schloss schon sehen. Die schmalen Türme ragten hoch hinaus. Bis an die Sonne. Alles schien an diesem Schloss zu strahlen. Alles schien dort schön zu sein. Er beschleunigte seine Schritte. Schließlich war er bald am Ziel. Das Herz hielt er in seinen beiden Handflächen, ganz vorsichtig. Er hatte sich auf dem ganzen Weg ausgemalt, was Gott wohl sagen würde, wenn er Ihm sein Herz zurückbringt. Ob Er sich freut? Ob Er wüten sein wird, weil Er meint, er habe es Ihm gestohlen? Ob er eine Belohnung bekommen würde? Oder vielleicht – im Falle Gott wäre wütend – eine Strafe? Egal, er hatte sich nun einmal dazu entschieden, Gott das Herz zurückzubringen. Also wollte er die Angelegenheit nun auch endlich zu Ende bringen. Schon stand er am Eingang des Schlosses. Ein Wohlgeruch umfing ihn. Und überall war leise Musik zu hören. Er klopfte vorsichtig an. Vorsichtig, denn er trug ja das Herz in seinen Händen. Da schwenkte das Tor auf. Er trat ein. Ein unermesslich weiter Raum tat sich vor ihm auf. Und es war, als schien darin die Sonne. So hell, als wollte man meinen, hier gäbe es kein Dunkel. Er schaute. Und staunte. Er stand da, mit dem menschenfarbenen Herzen in seinen Händen. Da war viel los. Jeder schien beschäftigt. Er wusste nicht, an wen er sich wenden sollte. Da kam einer vorüber. Den sprach er einfach an. Ob er wüsste, wo er Gott finden könnte. „Oh!" sagte dieser, „das tut mir leid. Er ist gerade nicht hier." Nicht hier? Sei denn so etwas möglich? „Na ja, es ist so. Gott hat sein Herz verloren. Und nun sucht Er, an wen Er es verloren hat. Wenn sie auf Ihn warten wollen, es könnte allerdings schon eine Weile dauern…" Hilflos stand er da, mit dem Herzen in der Hand. Sein Blick auf die Kostbarkeit gerichtet. Also hatte er recht gehabt. Das Herz ist Gottes Herz. Aber nun war er mit dem Herzen hier. Und Gott war unterwegs, um herauszufinden, an wen Er es verloren hat. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Denn sein Gesprächspartner wollte sich gerade wieder davon machen. Und er musste ja noch wissen, was er nun tun sollte. Doch ehe er es sich versah, war er wieder allein, am Eingang der großen Halle, vor dem lebendigen Treiben all derer, die hier waren. Und er wusste sich keinen Rat. Also kehrte er um. An der Tür hinterließ er noch eine Nachricht mit seiner Adresse, dass, falls Gott wieder hier ankommt, Er sein Herz bei ihm abholen könnte.
Enttäuscht machte er sich auf den langen Rückweg. Er hatte sich schon auf Gott gefreut. Er wollte wissen, wie Er reagieren würde. Er war so behutsam mit dem Herz umgegangen, weil er es doch unversehrt Gott zurückgeben wollte. Und er dachte, Gott warte nur darauf… Der Rückweg war schwer. Jeder Schritt war schwer von Enttäuschung und Traurigkeit. Nun irrt Gott herum in dieser Welt und sucht Sein Herz. Und Er wird es nicht finden, da es doch bei ihm ist. Wie sehr muss Gott doch Sein Herz vermissen!
Plötzlich blieb er stehen - inmitten seines Grübelns und Nachdenkens. Da war doch etwas. Er hatte es selbst gespürt. Da, schon wieder. In der Mitte seiner Handflächen. Ein sanftes Räkeln. Er war schockiert. Das Herz! Was, wenn dem Herzen etwas zustößt. Was, wenn es stirbt! Doch nein, es räkelte sich schon wieder. Oder war es eher ein sanftes Pochen? Ein leises Schlagen? Er stand da, wie angewurzelt. Er war sich unsicher. Pochte es nun wirklich? Er konnte nichts sehen. Doch es fühlte sich so an. Um Gewissheit zu bekommen hob er es an seine Wangen. Sanft fühlte er, sanft spürte er, wie es sich an ihn schmiegte. Wirklich. Es regte sich. Es lebte auf. Da befiehl ihm Angst. Was würde Gott dazu sagen, wenn er es Ihm zurückgab? Durfte das sein? Durfte dieses menschenfarbene Herz schlagen? Die Angst wuchs in ihm. Und beinahe hätten seine Finger sich um das Herz verkrampft, hätte er nicht dieses Pochen noch deutlicher gespürt. Und da verschwand die Angst. Freude machte sich breit in ihm. Dieses Herz – es steckte ihn an. Mit seinem Pochen, seinem Rhythmus zu schlagen. Mit seinem Leben. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Noch voller Verwunderung, über das lebendige menschenfarbene Herz in seinen Händen. Und bald schon lief er im Gleichklang dieses neuen Pulses. Er hüpfte, er tanzte, er lief, er spazierte, ganz so, wie das Herz ihn lockte. Und er frohlockte. So fröhlich war er schon lange nicht mehr gewesen. Oder war er gar verliebt? Er schämte sich. Aber doch, ein wenig war er verliebt – in dieses Herz. In dieses menschenfarbene Herz, das lebte, und pochte und klopfte und schlug.
Und er genoss es, mit diesem Herzen zu laufen. Unterwegs zu sein. Bis er plötzlich seine Haustüre rammte. Hart an ihr anschlug, wie an eine andere Welt. Da stand er nun. Mit dem angeschlagenen Kopf. Mit dem menschenfarbenen, lebendigen Herzen in seinen Händen. Und er stöhnte auf. Er war wieder Zuhause. Doch er wollte ja noch gar nicht wieder da sein. Er wollte weiter gehen mit dem Herzen. Denn, wenn er weitergehen würde mit diesem Herzen, dann könnte er es noch tragen, könnte es fühlen, könnte es halten. Könnte ihm nahe sein und bei ihm bleiben. Und vielleicht könnte er sich dieses Herz behalten… Aber hier, in seinem Zuhause. Da war alles beim Alten. Alles wie früher. Er müsste das Herz in ein Regal legen, denn er müsste seiner Arbeit nachgehen. Alles würde langweilig sein, im Vergleich zu diesem Herzen. Und mit der Zeit, wenn das Herz lange genug auf dem Regal gelegen hätte, würde er es dann vielleicht vergessen? Er würde es nicht mehr spüren. Würde nicht mehr in seinem Rhythmus leben… Er stöhnte auf. Welch ein Jammer. Wie traurig. Und er tat das schier Unvermeidliche. Er öffnete die Tür zu seinem Haus, trat ein, und legte das Herz ein letztes Mal an seine Wange, ehe er es für immer auf sein Regal ablegen wollte. Da klopfte es plötzlich. Er schreckte hoch, das Herz noch in seinen Händen. Da trat jemand in den Flur seines Hauses und sprach ihn an: „Da ist es ja, Mein Herz! Wie sehr hab ich dich gesucht." Schrecken überfiel ihn. Denn da stand plötzlich Gott, mitten in seiner Wohnung. „Du bist es also, an dem Ich mein Herz verloren habe", sprach Gott ihn an. Er aber brachte kein Wort über seine Lippen. So überrascht war er. Doch das kleine Herz in seinen Händen, es begann freudig zu zittern. Es bebte Gott entgegen. Da strahlte Gott auf: „Mein Herz!" Ihm aber traten Tränen in die Augen, denn er wusste wohl, wozu Gott gekommen war. Er hatte Ihm ja selbst die Nachricht hinterlassen, wo Er sein Herz wiederfinden würde. Der Abschied fiel ihm schwer. Wie sollte er dieses Herz loslassen. Dieses so menschenfarbene, lebendige Herz, das er inzwischen so liebte. Doch er hob seine beiden Hände, darin das Herz lag. Reichte sie Gott hin und brachte noch immer kein Wort über die Lippen. Doch Gott sah, was in seinem Innern vorging und sprach: „An dich habe Ich mein Herz verloren. Du hast es aufgenommen und lieben gelernt. An dich will Ich mein Herz verschenken. Damit Menschen wieder Menschen werden…"
„Damit Menschen wieder Menschen werden" – Zitat nach dem sel. Carl Lampert +1945
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